KI-Kompetenzen – eine internationale Perspektive auf Bildung im Wandel

Niels Pinkwart, Vizepräsident für Lehre und Studium, Humboldt-Universität zu Berlin 

Die Diskussion um Künstliche Intelligenz (KI) hat in den letzten Jahren enorm an Fahrt aufgenommen – nicht nur in der Technologiebranche, sondern auch im Bildungsbereich. Systeme wie ChatGPT, die Ende 2022 noch als hochinnovativ galten, sind inzwischen von leistungsfähigeren Tools überholt worden: multimodale KI-Agenten, die Sprache, Bild und Video verarbeiten, oder Programme zur automatisierten Videoproduktion inklusive synthetischer Tonspur setzen neue Maßstäbe. Während die technologische Entwicklung in atemberaubendem Tempo voranschreitet, fällt es vielen Bildungseinrichtungen schwer, Schritt zu halten. Die Kluft zwischen technischen Möglichkeiten und institutioneller Umsetzung wächst – und mit ihr die Gefahr, dass Bildungssysteme abgehängt werden.

Ein zentraler Hebel, um diese Kluft zu verkleinern, sind die Kompetenzen der handelnden Personen im Bildungsbereich: Lehrkräfte, Lernende, Schul- und Hochschulleitungen sowie Verwaltungsmitarbeitende benötigen ein fundiertes Verständnis dafür, was KI leisten kann, wie sie sinnvoll in Lehr- und Lernprozesse integriert werden kann – und wo ihre Grenzen liegen. Diese Notwendigkeit betrifft nicht nur Deutschland, sondern ist ein globales Thema. Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen in Europa, den USA und China zeigt, wie unterschiedlich Staaten auf die Herausforderung reagieren – aber auch, welche gemeinsamen Muster sich erkennen lassen.

In Europa ist durch den kürzlich in Kraft getretenen AI Act ein rechtlicher Rahmen geschaffen worden, der den Aufbau von KI-Kompetenzen ausdrücklich vorschreibt. Artikel 4 beinhaltet die Verpflichtung zur Schulung all jener Personen, die mit KI-Systemen arbeiten. Daraus ergibt sich eine direkte Relevanz für Bildungseinrichtungen: Wer KI-Systeme in Lehre oder Verwaltung einsetzt, muss dafür sorgen, dass das beteiligte Personal über die nötigen Kompetenzen verfügt. Die EU-Kommission unterstreicht und begleitet diese Anforderung mit einer Reihe von Programmen und Maßnahmen. Ziel ist es u.a., digitale und KI-bezogene Kompetenzen systematisch in alle Bildungsstufen zu integrieren, gezielte Fortbildungsangebote zu schaffen, europäische Mobilitätsformate zu fördern und Mikro-Zertifikate zu etablieren, die flexible Qualifizierungsmöglichkeiten bieten. Komplementär dazu wurde im Mai ein international abgestimmter Kompetenzrahmen für den Schulbereich vorgestellt: das AI Literacy Framework for Primary and Secondary Education. Dieses Framework beschreibt, wie KI-Kompetenzen bereits in der Grundschule und Sekundarstufe vermittelt werden können. Es geht dabei nicht nur um technisches Wissen über Daten, Algorithmen oder Modelltraining, sondern auch um kritisches Denken, ethische Reflexion, gesellschaftliche Auswirkungen und kreative Anwendung. Das Dokument betont die Relevanz interdisziplinärer Zugänge und erfahrungsbasierten Lernens. KI soll nicht isoliert gelehrt, sondern eingebettet in lebensweltliche Kontexte erfahrbar gemacht werden.

Auch die USA haben in den letzten Wochen ein deutliches Zeichen gesetzt: Per Dekret des Präsidenten wurde unter Federführung des Office of Science and Technology Policy eine interministerielle Taskforce gegründet, die eine umfassende nationale Strategie für KI-Bildung entwickeln soll. Neben dem Bildungsministerium sind auch Ressorts wie Energie, Arbeit und Landwirtschaft beteiligt – ein klares Signal, dass KI-Kompetenzen nicht nur für IT-Berufe, sondern für alle Sektoren als relevant gelten. Im Fokus der geplanten Strategie steht die Einführung von KI als fächerübergreifende Schlüsselkompetenz ab der Mittelstufe. Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur über KI sprechen, sondern sie aktiv im Unterricht nutzen – insbesondere in den MINT-Fächern. Lehrkräfte werden gezielt durch Fortbildungen und neue didaktische Materialien unterstützt, sodass die Vermittlung nicht abstrakt bleibt, sondern praxisnah und erlebbar wird. Unterstützt wird die Strategie durch Kooperationen mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie durch Wettbewerbe wie die „Presidential AI Challenge“, die innovative KI-Projekte (auch) an Schulen auszeichnet. Ein Widerspruch bleibt jedoch bestehen: Gleichzeitig wurden in den USA drastische Kürzungen bei Förderprogrammen für MINT-Bildung diskutiert, was die Umsetzung der Strategie erheblich erschweren könnte.

Auch China, neben den USA die führende Nation im Bereich KI, hat in den letzten Wochen eine neue, ambitionierte Strategie vorgelegt. Auf einer prominent besetzten internationalen Konferenz stellte das chinesische Bildungsministerium sein neues White Paper zum Thema „Smart Education“ vor. Deutlich wird darin einiges: Der Schritt von Forschung zu Anwendung ist in China bereits vollzogen. KI-gestützte Lernplattformen wie „Xiaoya“, die personalisierte und adaptive Lernprozesse unterstützen, erreichen inzwischen Millionen Nutzerinnen und Nutzer. Der politische Wille, KI ganzheitlich in die Bildung zu integrieren – sowohl im Präsenz- als auch im Online-Unterricht – ist auf höchster Ebene verankert. Besonders bemerkenswert ist, wie eng Bildungstechnologie und Bildungsforschung verzahnt werden: Daten aus Lernplattformen fließen systematisch in Forschungsvorhaben ein und umgekehrt werden Forschungsergebnisse direkt für die Weiterentwicklung der Technologie genutzt. Neben technologischen Fragen betont das Strategiepapier auch als zentrales Element die Rolle von KI-Kompetenzen für Lehrkräfte, Hochschulmitarbeitende und Bildungspersonal in Verwaltung und Politik. China verfolgt einen klar internationalen Ansatz – sei es im Hinblick auf die Entwicklung globaler Standards oder durch gezielte bilaterale und multilaterale Kooperationen im Bildungsbereich.

Was bedeuten diese internationalen Entwicklungen für Deutschland? Zunächst einmal: Der Aufbau von KI-Kompetenzen ist keine Option mehr, sondern eine Voraussetzung für zukunftsfähige Bildung. Wer Bildung ernst nimmt, muss die Menschen im System befähigen, mit KI reflektiert, kompetent und verantwortungsvoll umzugehen. Dabei darf es nicht bei Einzelinitiativen bleiben – gefragt sind strukturelle, curriculare und professionsbezogene Veränderungen. Und auch der internationale Austausch gewinnt an Bedeutung: Wir können viel lernen von und gemeinsam mit anderen Ländern – sowohl von ihren Fortschritten als auch von ihren Herausforderungen. Klar ist: Der Handlungsdruck wächst.